Lotte Kestner stiehlt erfolgreich Flirted With You All My Life von Vic Chesnutt

Nur wenige Lieder sind im Stande dazu, ein Aha-Erlebnis zu erzeugen. Lotte Kestner, besser bekannt als Anna-Lynne Williams und Frontfrau der amerikanischen Band Trespassers William, gelang dieses Kunststück zuletzt mit der Nummer “Flirted With You All My Life” auf ihrem nur aus Cover-Songs bestehenden Album mit dem bezeichnenden Titel Stolen. Kennt man nämlich das Original von Vic Chesnutt nicht, so ist man nach etwa einem Drittel der Nummer von Intention, Aussage und Stimmung derart überrascht, dass fast zwangsläufig nur noch ein erkenntnisreiches “Aha” folgen kann. Wer “Flirted With You All My Life” also nicht kennt, sollte die Nummer zuerst anhören und erst dann weiterlesen.

I am a man,
I am self-aware
and everywhere I go
you’re always right there with me.

I flirted with you all my life,
even kissed you once or twice
and to this day I swear it was nice,
but clearly I was not ready.

When you touched a friend of mine,
I thought I would lose my mind,
but I found out in time that
really I was was not ready, no no.

Man will meinen, man höre eine einfühlsame Geschichte rund um Liebe, Hoffnung, Enttäuschung und Erkenntnis. Reflektierend, nicht wertend, aber dennoch mit Zuversicht beschrieben – und genauso auch von Lotte Kestner auf “Stolen” interpretiert. So gelingt ihr das Kunststück, den ahnungslosen Ersthörer nach eineinhalb Minuten zu überraschen. Mit den Worten:

Oh, Death,
Really, I’m not ready.

Oh, Death you hector me,
decimate those dear to me,
tease me with your sweet release,
you are cruel and you are constant.

Oh, Death,
Really, I’m not ready.

Diese Zeilen bilden das Aha-Erlebnis, welches plötzlich vieles klarer macht und “Flirted With You All My Life” umgehend in ein anderes Licht rückt. Einem Licht, in welchem keine Liebesgeschichte, sondern eine Geschichte rund um Angst, Trauer, Tod und Glaube beleuchtet wird. So verlagert sich die Intention von Vic Chesnutts Nummer auch auf eine höhere Ebene. Was zuvor noch als Zuversicht wahrzunehmen war, entpuppt sich aufgrund der Todesangst zunehmend als Verzweiflung, Hoffnung fehlt zur Gänze. Wie würde Lotte Kestner den vor zwei Jahren durch Suizid verstorbenen Vic Chesnutt heute wohl klingen lassen, hätte er diese Hoffnung für sich gefunden?

Geschrieben hat Alexander

Alexander schreibt am liebsten über die neuesten Entdeckungen aus den Genres Folk und Instrumental.