Wenn man seine Alben und Songs des Jahres noch vor Weihnachten auswählt, dann sollte man danach besser keine Alben mehr aus diesem Jahr hören. Unter Umständen kann es dann nämlich vorkommen, dass einem Musik, die man in den Tagen bis Neujahr hört, ungemein begeistert und man sich wünschen würde, man hätte sie in der Auflistung der besten Alben oder Songs berücksichtigt. Genau das ist uns zuletzt mit einem Album passiert, welches uns zu Weihnachten zwar schon bekannt, aber eben noch nicht vertraut war: Bon Iver von Bon Iver!
Bon Iver ist das zweite Album des amerikanischen Singer/Songwriters Justin Vernon und heißt gleich wie dessen künstlerisches Alter Ego. Ziemlich sicher nicht ohne Grund, denn Bon Iver (das Alter Ego) klingt auf “Bon Iver” (dem nach sich selbst benannten Werk) irgendwie … wie er selbst – oder zumindest so, dass es nach kurzer Zeit für uns Hörer ziemlich klar wird, dass sein Album keinen Namen, keine weitere Erklärung mehr braucht. Das weiß man, ohne das man Bon Iver selbst oder die Geschichte zum Album zwangsläufig kennen muss. Kurzum würde man das Album also als authentisch beschreiben. Oder darüber hinaus mit ganzheitlich.
Die Teile, die zu diesem Ganzen führen, beginnen schon im Kleinen – beispielsweise in der Bedeutung des Namens Bon Iver selbst. Lautmalerisch hat Vernon sein Kunstwort dem französischen “Bon Hiver” entnommen, was übersetzt soviel wie “Schöner Winter” heißt. Möglicherweise haben wir Vernons Musik erst deshalb im Winter so bewusst wahrgenommen. Möglicherweise konnten wir darum auch erst jetzt dem Album all die wunderbaren musikalischen Details entnehmen, die entfernt an eine gezeichnete Winterlandschaft erinnern. Verstärkt wird die Fiktion durch Vernons Route, die er uns Hörer in Form der Tracklist von “Bon Iver” präsentiert. Mit Nummern wie “Perth”, “Minnesota, WI”, “Michicant” oder “Hinnom, Tx” zeichnet Vernon einen Weg von Stadt zu Stadt, von dem wir wissen, dass es ihn nicht gibt (Wo liegt Michicant?), den wir aber dennoch lauschend mit ihm bestreiten. Bon Iver schafft mit seiner Musik im übertragenen Sinne somit wohl das, was einst Renaissance-Künstlern wie Joachim Patinier oder Pieter Bruegel d.Ä. zugeschrieben wurde: Weltlandschaften – teils reale, teils surreale und dadurch grotesk wirkende Landschaften und Orte. Gemalt hat sie Justin Vernon mit, so wie man ihn bis dato von seinem Debütalbum For Emma, Forever Ago kannte, akustischen Gitarren und folkigen Arrangements, neu aber auch mit viel Elektronik durch Synthesizer, wodurch Klänge entstanden, deren Spektrum wohl auch für Bon Iver selbst neu war. Zusammen mit seiner fast in jeder Nummer ungemein zerbrechlichen Kopfstimme sind die Ergebnisse dieser Reise facettenreiche Klanglandschaften, die man heute als Hörer so erstaunt bewundern darf, wie man es einst wohl als Betrachter von Gemälden wie Der düstere Tag von Pieter Bruegel d.Ä. getan hat:
Alles in allem ist Bon Iver die perfekte Mischung gelungen, um beim heute manchmal übersättigten Hörer durch Musik wieder Faszination auszulösen. Und auch wenn wir das nicht sofort erkannt haben, so sagen wir schlichtweg: Besser spät als nie! Und möglicherweise überlegen wir uns ja auch noch einen Sonderpreis für Bon Iver’s “Bon Iver” (not!).
Und übrigens: Weltlandschafts-Gemälde wie “Der düstere Tag” sind im Kunsthistorischem Museum in Wien zu bewundern. Für kurze Zeit sogar noch in der Sonderausstellung Wintermärchen.